Sie heißen "Bisasam", "Pikachu", "Bisaknosp", "Nidorina" oder "Mewtu", es gibt inzwischen über 150 davon und wenn sie täglich ab 14.45 Uhr auf RTL II zu sehen sind, schlagen die Kinderherzen höher. Bis zu 70 % der Kinder, die zu dieser Zeit fernsehen, sehen dann die Pokémon, und nicht nur seit dem im April in Deutschland angelaufenen Kinofilm sind sie der absolute Renner bei den "Kids".
Dabei hielt sich der Erfolg der Pokémon zunächst eher in Grenzen, als sie 1996 als Gameboy-Spiel zum ersten Mal in Japan auftauchten. Der Verkauf verlief schleppend. Das änderte sich erst, als die Fernsehserie auf den Bildschirmen anlief. Das Zeichentrickformat leistete den entscheidenden Anschub, erst mit der Serie kam der Erfolg, und inzwischen besteht die Pokémon-Welt aus einer ausgesprochen geschickt und umfassend angelegten Produkt- und Vermarktungsmaschinerie, die neben der Fernsehserie und Gameboy- bzw. Nintendo-64-Spielen, Sammelkarten, Spiel-figuren, Plüschtiere und sogar Pokémon-Tamagotchis und vieles mehr umfasst. Zu Weihnachten 1999 wurden in Europa jede Woche 100.000 Pokémon-Spiele verkauft.
Viele Marken profitieren inzwischen vom Pokémon-Boom, wie die Firma Kelloggs, die ihren Cornflakes Pokémon als Gimmicks beifügt. Dabei beschneiden sich die angebotenen Produkte und Artikel nicht gegenseitig, sondern "beflügeln" sich vielmehr, wobei die Fernsehserie als täglicher Dauerläufer sicher maßgeblich zum Erfolg des "Gesamtkunst-werkes" Pokémon beiträgt.
Was macht die Pokémon, deren Namen Erwachsene nicht einmal richtig aussprechen können und deren Reiz sich zumindest auf den ersten Blick nicht erschließen mag, bei den Kindern so beliebt?
Gerade dass Erwachsene auf diese bunten Kreaturen mehr oder weniger mit Unverständnis reagieren, macht sie für die Kids umso interessanter: sie haben etwas Eigenes, etwas "Geheimes", was nur sie verstehen und lieben, ein echtes Kinderprodukt. Oder welcher Erwachsene könnte von sich schon behaupten, dass er sich bei folgenden Inhalts-angaben zu einzelnen TV-Serienfolgen etwas vorstellen kann: "Ein Gengar und ein Simsala greifen Alabastia an. Nur ein mystisches Pummelmuff kann da noch helfen." Oder: "Otoshi und sein Knogga wollen in der Pokémon-Liga antreten, doch Team Rocket hat Otoshi all seine Orden geklaut."
Die Pokémon eignen sich für die Kinder vortrefflich als Identifikations- und Projektionsfiguren. Sie sind klein, sie sind sowohl vom Charakter als auch vom Aussehen her sehr unterschiedlich und sie können sich ständig verwandeln und weiter entwickeln. Auch Kinder sind klein, sind in ihrer Entwicklung noch "unfertig", und sehen sich in ihrem täglichen Leben immer mit Verboten, Einschränkungen und einer Beschneidung ihrer Wünsche und Pläne konfrontiert. Die kleinen Pokémon siegen über die Großen, wachsen über sich hinaus und setzen damit das um, was die Kinder selbst gerne tun würden. In den Gameboy-Spielen schlüpfen die Kinder in die Rolle von Pokémon-Trainern, die ihre Pokémon ausbilden, um sie stärker und robuster zu machen. Sie nehmen an Kämpfen teil, mit dem Ziel der größte und beste Pokémon-Trainer zu werden. Das sich messen mit Anderen, das spielerische Gewinnen und Verlieren können, ist etwas, was in der Entwicklung der Kinder eine große Wichtigkeit besitzt.
Die Unterschiedlichkeit der Pokémon bietet den "Kids" die Gelegenheit, von einer Sekunde auf die andere den Charakter völlig zu verändern. Sie sind mal lieb, mal stark und brutal, mal trickreich und klug. Kinder lieben solche Verwandlungen, dies entspricht ihrem "sprunghaften" Wesen. Jeder, der Kinder hat und/oder mit ihnen täglich zu tun hat, der weiß, welch starken Stimmungsschwankungen sie unterliegen. Eben haben sie noch mit Lego-Steinen gespielt, schon fangen sie lauthals an zu schreien, um im nächsten Moment schon wieder lieb und glücklich auszusehen. In ihren Rollenspielen sind sie einmal Mutter, dann Kind, einmal Polizist, dann Räuber, einmal Pferd, dann Reiter. Solche Verwandlungen werden ihnen bei den Pokémon par excellence ermöglicht, hier gibt es nahezu keine Grenzen für ihren Ausdrucks- und Gestaltungsdrang und ihre "Lust" auf Phantasie. Und noch eines ist wichtig: Sie können die verschiedensten Rollen annehmen, ohne in Gefahr zu sein, ohne Angst zu verspüren.
Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Pokémon-Charaktere hat aber noch einen weiteren Vorteil, den viele Comic-Helden nicht haben. Es können fast in gleichem Maße Jungen und Mädchen angesprochen werden. Dies gelingt z.B. den "Kollegen" von Disney ebenso wenig wie den TV-Erfolgsserien "Sailor Moon", beides sind eher "Mädchenformate".
Inzwischen ist die Vermarktung der Pokémon derart allgegenwärtig und genial angelegt, dass sich die Kinder dem nicht mehr entziehen können. Wer sich nicht mit den Pokémon auskennt, ist in der Minderheit, kann nicht mit-reden und wird schnell zum Außenseiter.
Natürlich ist klar, dass auch die Pokémon-Zeit einmal vorbei sein wird. Durch die tolle "Erfindung", immer wieder neue Figuren kreieren zu können und damit das ständige Bedürfnis der Kinder nach etwas Neuem befriedigen zu können, scheint diese Zeit aber noch in weiter Ferne zu liegen.
Autor: Thomas Kolbeck